Die Charité

herausgegeben von Johanna Bleker, Volker Hess
Akademie Verlag
9783050045252
3-05-004525-6

Als im Jahre 1710 weit vor den Toren der Stadt Berlin ein Pestlazarett errichtet wurde, konnte niemand ahnen, dass hieraus im Lauf der kommenden drei Jahrhunderte ein Weltzentrum der Medizin entstehen wrde. Die bald als Armenkrankenhaus genutzte Einrichtung war schnell berfllt, die Geldnot chronisch, die baulichen Verhltnisse mehr als schlecht, und die Behandlung der Kranken lag in der Hand von abkommandierten Militrchirurgen, die in der Regel nicht Medizin studiert, sondern nur ihr Handwerk erlernt hatten. Am Ende des 18. Jahrhunderts behaupteten Sptter nicht ohne Grund, dass die Charit in Berlin das leiste, wofr man in anderen Lndern der Erfindung des Herrn Guilottin bedrfe. Weitere hundert Jahre spter war die Charit eines der begehrtesten Reiseziele der rzte aus aller Welt. Man kam nach Berlin nicht nur, um die berhmten theoretischen Institute der Universitt oder die Universittsklinika der Fakultt kennen zu lernen. Auch die Charit war inzwischen ein Hort der klinischen Wissenschaften geworden: Neue Disziplinen entstanden, klinische Laboratorien wurden errichtet, und in ihren Abteilungen und Kliniken wurde das praktiziert, was bald berall als moderne Krankenhausmedizin gelten sollte. Gute fnfzig Jahre spter war vom einstigen Glanz wenig geblieben. Die Vertreibung der jdischen Intelligenz hatte auch die Charit schwer gezeichnet, der Krieg Ruinen und Trmmer hinterlassen, und die einsetzende Teilung Deutschlands entzog ihr manche der verbliebenen Ressourcen. Der vorliegende Band reduziert die Geschichte der Charit nicht auf die Vorgeschichte der heutigen Universittsmedizin, sondern beleuchtet Entwicklungsphasen dieser eigentmlichen Berliner Einrichtung, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg der Medizinischen Fakultt zugeschlagen wurde, aus der Perspektive moderner Krankenhausgeschichte. Jenseits der bekannten Anekdoten und oft wiederholten Vignetten werden neue Forschungsergebnisse anhand von Fallgeschichten prsentiert. Der Blick gilt der Herausbildung der klinischen Medizin zwischen der Entwicklung der theoretischen Wissenschaften einerseits und den Bedrfnissen einer wachsenden Industriestadt andererseits: Wie haben wissenschaftliche Erkenntnisse, aber auch militrmedizinisches Zweckdenken, den Alltag der enstehenden Krankenhausmedizin geprgt? Eingegangen wird unter anderem auf die Anfnge der Pdiatrie, die Herausbildung der wissenschaftlichen Psychiatrie, den Einzug der Labormedizin, die Entwicklung chirurgischer Versorgungstechniken oder auf den Umgang mit venerisch Erkrankten. Auch die dunklen Kapitel der Charit kommen hierbei nicht zu kurz: Die Anpassung, ja Anbiederung vieler rzte an die herrschenden Systeme und ihr schweigender Opportunismus werden ebenso thematisiert wie die oftmals berraschenden Kontinuitten zwischen dem Dritten Reich und den mhsamen Neuanfngen nach 1945.